Ein Rundgang mit Kurkind Petra

Westfaelische Salzwelten / Bildung und Vermittlung / Kinderkuren in Bad Sassendorf

Aufgrund der Nähe zum Ruhrgebiet wurde Bad Sassendorf schon früh zu einem Zentrum der Kindererholungsheime, in dem sich die Kinder von den prekären Wohn- und Luftverhältnissen in den engen Industriekernen des Ruhrgebiets erholen sollten. Dabei wurde offiziell Das erste Kinderkurheim in Bad Sassendorf wurde 1877 vom Verein für innere Mission der Grafschaft Mark eröffnet. Bis in die 1920er-Jahre folgten weitere große und viele kleinere Einrichtungen in unterschiedlichster Trägerschaft. Auf dieser Tour begleitest du die achtjährige Petra. Sie darf zur Kinderkur nach Bad Sassendorf fahren. Ihre Erlebnisse und Eindrücke teilt sie in dieser Geschichte. Sachtexte ergänzen Petras Geschichte und bieten zusätzliche Erläuterungen an.

Inhalt, Text und Geschichte der Tour wurden in Zusammenarbeit mit dem historischen Seminar der Universität Münster in einem Workshop mit Studierenden, Zeitzeug*innen und Dr. Lena Krull erstellt. Im Jahr 2020 gewann das Projekt den Citizen Science Wettbewerb der Arbeitsstelle Wissenstransfer der Uni Münster. Texte: Matthias Bade, Lukas Duisen, Jennifer Krüger.
 

1. Vorgeschichte





Kurkind Petra - Bahnhof

Ich weiß noch ganz genau, wie alles angefangen hat. Wir saßen zusammen am Esstisch, Mama, Papa, mein großer Bruder Klaus und ich – da hat mich Mama plötzlich gefragt, ob ich Lust hätte, eine Kinderkur zu machen.

Ich wusste nicht so recht, was das ist, eine Kinderkur. Mama und Papa haben gesagt, da würde man mich aufpäppeln; ich wäre zwar eine Zeitlang weg von zuhause, aber dafür dürfte ich sogar mit dem Zug hinfahren! Ich hatte vorher schon oft Züge gesehen, wenn sie durch unser Viertel gefahren sind – aber selber einmal damit fahren, das klang ganz neu und aufregend! Klaus meinte außerdem, dass auch das Essen dort lecker ist. „Wie bei Mama“, hat er gesagt – er war vorher auch schon mal in einer Kinderkur, nicht da, wo ich hinsollte, aber so unterschiedlich war das ja bestimmt nicht.

Von da an war ich ganz gespannt, wann es endlich losgehen sollte. Mama fing an, meine Anziehsachen mit Namensschildern zu versehen und in einen großen Koffer zu packen. Ich war so stolz, was für ein Aufwand gemacht wurde, und das Alles für mich!

Irgendwann im Sommer war es dann endlich so weit: Mama und Klaus haben mich zum Bahnhof gebracht, und dann musste ich allein in den Zug steigen; wobei, so alleine war ich dann auch wieder nicht. Da war noch eine Gruppe anderer Kinder, die hatten so komische Pappschilder um den Hals, und daneben stand eine Betreuerin. Ein paar von denen sahen nicht so glücklich aus und guckten traurig aus dem Fenster. Ich jedenfalls fand die Fahrt sehr spannend, und als wir dann angekommen sind, sind wir alle zusammen zu Fuß vom Bahnhof mit der Betreuerin losmarschiert.

Hintergrund: An die 5000 Kinder pro Jahr wurden in den 1950er- und 1960er Jahren aus dem ganzen Bundesgebiet ohne ihre Eltern zu Erholungskuren nach Bad Sassendorf geschickt. Dort wurden sie in den Kindererholungsheimen unterschiedlicher Trägerorganisationen untergebracht. Krank waren nur die wenigsten der Kinder: Die meisten Kurkinder wurden aufgrund ihrer „schwächliche Konstitution“ zur Erholung geschickt. Sie waren kleiner oder dünner als die anderen und sollten während der Kur „aufgepäppelt“ werden. Aber auch Skrofulose, Lupus, rheumatische Erkrankungen oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen wurden als Grund für einen Kuraufenthalt aufgelistet. Die Indikationen verändern sich mit der Zeit. Die Koordination der Kuren fand häufig über die Wohlfahrts- und Gesundheitsämter statt, konnte aber auch über den Arbeitgeber der Eltern erfolgen. Ob ein Kind zu einer Kur berechtigt war, wurde bei Voruntersuchungen durch einen Arzt festgestellt. Nicht selten sollten durch die Aufenthalte der Kinder im Erholungsheim die Eltern, insbesondere die Mütter, entlastet werden. Die Heime stellten den Familien Packlisten zur Verfügung, in denen darauf hingewiesen wurde, dass alle Kleidungsstücke mit den Namen der Kinder versehen sein müssen. Versehen mit einem Pappschild um den Hals, wurden die Kinder meist mit wenigen Betreuungskräften in großen Gruppen über Sonderzüge mit der Bahn oder Bussen an den Kurort transportiert. 

2. Ankunft im Kinderheim





Kurkind Petra - Brunnen

Der Weg zum Kinderkurheim kam mir sehr lang vor, vielleicht, weil ich ziemlichen Hunger hatte. Ein paar Kinder hatten es gut, die durften auf einer Art Trecker mitfahren, aber in eine andere Richtung, zum „Haus Hamburg“, wie uns gesagt wurde. Endlich sind wir dann aber in einem großen Haus angekommen. Ich hatte eigentlich gehofft, dass es direkt etwas zu essen geben würde; aber nein, erstmal mussten wir alle auf die Toilette gehen, und danach kamen viele nervige Untersuchungen: Wir wurden gewogen und gemessen – das war insgesamt alles sehr eigenartig, und ich mochte es überhaupt nicht, dass ich mich vor dem Wiegen nackig ausziehen musste – die anderen Kinder waren ja schließlich auch da! 

Danach gab es endlich Essen; aber dann mussten wir auch direkt schlafen gehen, obwohl wir doch gerade erst angekommen waren, und wir wollten uns ja auch erstmal alle richtig kennenlernen, so viele wie wir waren! Also haben wir viel gequatscht und ein bisschen rumgealbert, aber das hat der Schwester gar nicht gefallen, die hat direkt sehr laut mit uns geschimpft, und dann war Ruhe; und noch schlimmer, sie hat mir meine Puppe Susa weggenommen, die eigentlich immer bei mir schläft! Ich war zwar erst kurze Zeit da, aber ich hatte schnell gemerkt: Es ist alles ganz anders als zuhause.

Hintergrund: Die Ankunft im Kinderkurheim bildete den Auftakt für eine Reihe organisatorischer Arbeiten. In vielen Heimen unterzogen Ärzt*innen die Kinder einer Eingangsuntersuchung, in der Gewicht, Größe und andere Auffälligkeiten dokumentiert wurden. Vor der Abfahrt wurden die Untersuchungen wiederholt. Zeitgeschichtliche Dokumente belegen, dass der Kurerfolg zumeist an eine Gewichtszunahme geknüpft wurde. Viele Kinder schämten sich bei den Untersuchungen, die in Gegenwart der anderen Kinder durchgeführt wurden. Im Anschluss wurden die Kinder einer Gruppe in Erholungsheim zugeordnet, mit der sie einen Schlafsaal, die Zeiten der Kuranwendungen und den gesamten Zeitplan teilten. Oft erfolge die Zuordnung nach dem Alter. Geschwister, die gemeinsam angereist waren, wurden getrennt und sahen sich häufig bis zum Ende des Aufenthaltes nicht mehr. Das Gepäck der Kinder wurde kontrolliert und in einigen Heimen so verstaut, dass die Kinder nicht selbst an ihren Besitz konnten. In einigen Heimen besaß jedes Kind einen eigenen Schrank, in anderen gab es offene Gepäckfächer, zu denen nur zu bestimmten Zeiten der Zugang gewährt wurde. Das Mitbringen von Nahrungsmitteln war untersagt, wohingegen das Mitbringen von Stofftieren und Puppen erlaubt war. Nicht selten wurde ein Vergehen gegen die Hausordnung aber mit Entzug des geliebten Spielzeugs geahndet. Die Betreuung der Kinder übernahmen je nach Einrichtung Erzieherinnen, Ordensangehörige und unausgebildete Hilfskräfte. Die Kinder sollten die Betreuungskräfte häufig als „Tanten“ betiteln.

3. Schlafsaal





Kurkind Petra - Kinderheilanstalt

Die Tanten brachten uns in einen großen Raum mit vielen Betten. Sie zeigten jedem Kind, wo es schlafen soll. Mein Bett stand direkt unterhalb eines großen Fensters. Ich schob meinen Koffer unter das Bett wie die anderen Kinder auch. Der Raum war riesig! Es waren noch viele andere Mädchen dabei, die Jungs sind wohl woanders. Ich war eine der Ältesten im Saal, es waren viele kleine Kinder dabei. 

Die Decken kratzten, hielten aber warm. Ich konnte nicht richtig einschlafen. Ich vermisste Mama und Papa. Außerdem hörte ich andere Kinder um mich herum in ihrem Bett leise weinen. Eine Tante ging herum und guckte, ob alle Kinder schlafen. Ich tat nur so, weil ich ein bisschen Angst vor ihr hatte. Sie hatte Susa in einen Spind geschlossen. Dabei kann ich ohne meine Puppe nicht einschlafen. 

Nachts muss ich immer aufs Klo, aber wir durften nach 19 Uhr nicht mehr aus dem Raum. Ich traute mich nicht, auf den Topf im Schlafsaal zu gehen. Ich schämte mich, vor den anderen Kindern zu müssen. Ich bin schon acht Jahre alt, zuhause gehe ich immer allein aufs Klo. Außerdem stand der Eimer so weit von meinem Bett entfernt, dass ich an fast allen Betten hätte vorbeimüssen. Morgens stinkt es immer, wenn der Topf voll ist. Manchmal stoßen die Kinder nachts gegen den Topf und das Pipi läuft über die Dielen.

Schön war es, vor dem Schlafen mit Maria im Bett neben mir zu sprechen.

Hintergrund: Die Unterbringung der Kinder erfolgte in Schlafsälen unterschiedlichster Größe und nach Geschlechtern getrennt. Fotografien, Zeitzeug*innen und Heimdokumentationen belegen diverse Raumgröße von Vierbettzimmern bis hin zu riesigen Schlafsälen. Die Betreuungskräfte hatten ihre Schlafzimmer meist direkt neben den Zimmern der Kinder. Viele der Kinder wurden von Heimweh geplagt und konnten sich nur schwer an die neue Umgebung anpassen. In den Berichten der Zeitzeugen wird die Strenge der Betreuungskräfte beschrieben, die Weinen oder Reden am Abend bestraften. Der Heimalltag folgte einer einer engen zeitlichen Taktung, in der auch die Zeit für Toilettengänge vorgegeben wurde. Insbesondere in der Nacht sollten die Kinder ihren Schlafsaal nicht verlassen. Für den Notfall sind für viele Heime Nachttöpfe belegt, die während der Ruhezeiten zum Einsatz kamen. Im Dunklen ging häufiger etwas daneben. Der Geruch wurde von vielen Kindern als störend empfunden und nicht selten schämten sie sich davor, die Nachttöpfe zu nutzen. Einige Kinder wurden in den Kuren zu Bettnässern. Dieser „Makel“ wurde nicht selten mit Beschimpfungen, Bestrafung und Ausgrenzung geahndet.

4. Waschraum + Bettnässen





Kurkind Petra - Kinderheilanstalt Nebengebäude

Vom Schlafraum gingen wir alle zusammen morgens in einen großen Waschraum. So viele Waschbecken waren da. Wir gingen zu dritt an ein Becken, um uns zu waschen und die Zähne zu putzen. Quatschen konnten wir dabei nicht. Die Tanten sind streng, sie wollen keinen Lärm und achteten darauf, dass alle sich waschen. Auch unsere Nägel wurden kontrolliert. Marias Nägel werden von einer Tante noch einmal nachgeschnitten. So kurz, dass sie anfing zu weinen und es an den Fingerspitzen blutete.

Nachdem wir mit dem Waschen fertig waren, wurde ein kleines Mädchen, vielleicht vier Jahre alt, von den Tanten in die Mitte des Raumes gestellt. Wir sollten alle zuhören. Die Tante hielt ein Bettlaken hoch, auf dem gelbliche Flecken zu sehen waren. Die Tante sagte, dass das kleine Mädchen unartig war und ins Bett gemacht habe. So etwas sei verboten. Die Kleine fing an zu weinen. Wir hatten Angst, weil die Tante so böse war. Von da an mieden wir das Mädchen. Niemand will mit einer Bettnässerin befreundet sein.

Hintergrund: Die Unterbringung der Waschsäle unterschied sich in den Einrichtungen. In einigen Häusern gab es Duschsäle, in anderen Häusern lediglich Waschräume mit Waschbecken. Viele Betroffene berichten, dass die offenen Waschsäle, in denen mehrere Kinder nackt waren, in ihnen ein Gefühl der Scham auslösten. In einigen Institutionen war der Weg zu den Waschsälen sehr weit von einigen Stationen entfernt, was diese Scham verstärkte. Hygiene spielte in den Kinderkureinrichtungen eine wichtige Rolle. Insbesondere die jüngeren Kinder waren auf die Unterstützung des Betreuungspersonal angewiesen. 

Ein besonderer Arbeitsaufwand für das Personal waren die Bettnässer. Viele Einrichtungen schlossen die Aufnahme von bettnässenden Kindern aus – andere hingegen spezialisierten sich auf die Behandlung dieser Kinder. Bettnässen wurde in vielen Einrichtungen bestraft und öffentlich zur Schau gestellt, was den Druck auf die Kinder erhöhte.

5. Solebad





Kurkind Petra - Teehaus

Mehrmals die Woche mussten wir mit allen Kindern aus unserer Gruppe ins Solebad. Nach der Mittagsruhe mussten wir uns in Zweierreihen aufstellen. Ich hing immer mit Maria, die auch im Schlafsaal neben mir lag. Ihre schwitzige Hand lag in meiner, wenn wir singend zum Badehaus zogen. Das machte mir immer am meisten Spaß – die schönen Lieder, die wir auf dem Weg zum Baden singen durften. Im Badehaus selbst mussten wir still sein und den Mund halten. Dort herrschte ein eigenartiger Geruch – schwer, holzig und irgendwie gemütlich. Der Geruch erinnerte an Wacholder.

Wir mussten uns nackt ausziehen und in eine Holzwanne mit einer heißen, braunen Brühe legen. Der Bottich im Solebad war sehr hoch. Mit meinen kurzen Beinen konnte ich nie den Boden berühren. Das machte mir Angst, denn schwimmen konnte ich noch nicht. Oben auf den Holzbottich wurde ein Brett gelegt, damit wir in der Wanne bleiben. Ich hasste das Baden in dem braunen salzigen Wasser. Stillliegen und sich nicht bewegen – eingezwängt zwischen dem Brett und der Wanne. Marie hingegen freute sich jedes Mal auf das schöne wohlig warme Bad und den wohligen Duft im Badehaus. Wenn wir uns endlich aus der warmen Wanne hieven durften, folgte das Schlimmste: Kaum waren wir der braunen Brühe entflohen, wurden wir mit eisig kaltem Wasser übergossen. Die Zähne bibberten.

Hintergrund: Abhängig von den in einem Kurort angebotenen Kurmitteln erhielten die Kinder während ihres Aufenthaltes diverse Kuranwendungen, wie Solebäder, Soleinhalation am Gradierwerk oder in Inhalationskammern, Liegekuren oder Anwendungen mit der Höhensonne. Dabei wurde im seltensten Fall nach Indikationen unterschieden. In Bad Sassendorf erhielten die meisten Kinder Bäder in der Sassendorfer Natursole, gefolgt von einem kalten Guss. In einigen Kinderkureinrichtungen befanden sich die Badezellen direkt im Haus oder auf dem Gelände der Klinik. Kleinere Einrichtungen schickten die Kinder zum Baden ins Kurmittelhaus. Die Badezeit wurde von Mal zu Mal gesteigert. Von ursprünglich wenigen Minuten, wurde die Zeit kontinuierlich erhöht. Die Träger zahlten der Badeverwaltung einen abgestimmten Betrag für die Bereitstellung der Sole. In den meisten Verträgen zwischen den Einrichtungen und der Verwaltung ist vermerkt, dass maximal zwei Kinder gemeinsam in einer Badewanne baden durften. Um den Kindern eine dauerhafte Luftveränderung zu ermöglichen, richteten viele Träger ihre Heime in direkter Nähe zu einem der Gradierwerke ein.

6. Speisesaal + Essen





Kurkind Petra - Haus Harpen

Mein Bruder hat gesagt das Essen im Kurheim würde genauso schmecken wie bei Mama, aber das fand ich gar nicht. Wir aßen alle zusammen in einem großen Speisesaal. Morgens gab es oft Haferschleim und Milchreis. Manchmal auch belegt Brote und Obst, das mochte ich besonders gern. Zum Mittagessen gab es manchmal Nudeln oder Eintopf oder Germknödel. Milchsuppe mag ich überhaupt nicht und die gab es leider oft. Mama zwang mich nie dazu Milchsuppe zu essen, aber die Schwestern sagten wir müssten alles aufessen. Ich gebe mir ganz viel Mühe und möchte alle stolz machen. Aber es gibt jeden Tag so viel zu essen und wir müssen alles aufessen und dürfen nicht trödeln.

Letzte Woche hat ein Junge am Nachbartisch seine Portion nicht geschafft und musste brechen. Da sind die Schwestern böse geworden. Der Junge musste alles aufessen, auch sein Erbrochenes. Ich saß beim Essen mit den Mädchen aus meinem Schlafsaal zusammen. Wir hatten alle Angst was passiert, wenn wir Reste auf dem Teller lassen. An einem Morgen habe ich versucht dem Mädchen neben mir zu helfen und habe eines ihrer Brote gegessen, weil sie nicht mehr konnte. Aber dann gab es mittags Milchsuppe und ich hatte keinen Hunger. Ich habe es nicht geschafft. Ich habe mich so angestrengt. Die Heimleiterin hat alles gesehen. Sie ist schrecklich wütend geworden...“

Hintergrund: Der Erfolg der Kuren wurde an heute schwer verständlichen Komponenten bemessen: Gewichtszunahme und gebräunte Haut. Ein Großteil der Kinder wurde trotz ihres Normalgewichtes zum Aufpäppeln in die Kur geschickt. Dokumente aus den Heimen belegen, dass eine Gewichtszunahme in den meisten Kuren erwartet wurde. Um dieses Ziel bei den Kindern zu erreichen, wurden bei den Mahlzeiten hochkalorische Gerichte in großen Mengen gereicht: Ob belegte Brötchen, Milchsuppe, Germknödel oder Linsensuppe mit Speck. Die Kinder mussten ihre Portion aufessen und häufig noch einen Nachschlag nehmen. Eine Ablehnung gegen einzelne Gerichte oder Sättigung wurden nicht geduldet. Zeitzeugen berichten von Zwangsernährung und davon, dass Kinder unter dem Zwang der Betreuungskräfte ihr Erbrochenes essen mussten. Wie der restliche Tagesablauf, waren auch die Mahlzeiten strikt getaktet und geprägt von einem andauernden Druck.

7. Spaziergang + Freizeit





Kurkind Petra - Gradierwerk

Jeden Tag spazierten wir mit unserer Gruppe und der Tante. In Zweierreihen hielten wir uns an der Hand und zogen singend durch den Ort. Die Tanten achteten darauf, dass wir ordentlich gehen und keiner von uns unterwegs verloren geht. Wichtig ist, dass wir alle ordentlich liefen und zusammenblieben. Mit fremden Leuten durften wir nicht sprechen. Untereinander flüsterten wir manchmal mit unseren Nachbarn. Ich genoss diese Zeit mit Maria sehr. Unterwegs sangen wir immer Lieder, manchmal „Das Wandern ist des Müllers Lust“, das ist mein Lieblingslied. Manchmal waren es auch Kirchenlieder. Ich habe viele neue Lieder kennengelernt. Oft sahen wir andere Kinder, die auch in Zweierreihen durch den Ort gingen. Wir liefen auf dem freien Feld, im Kurpark und bei jeder Runde mindestens einmal durch das Gradierwerk.

Maria mochte das nie, denn sie hat sich im Gradierwerk, einem riesigen alten Holzgerüst, über das salziges Wasser läuft, immer gegruselt. Dort ist es dunkel, feucht und einfach unheimlich. Ich mochte es immer gerne, denn die Luft dort roch irgendwie ganz besonders. Leider gab es auf unserer Station nicht viele Spielsachen, mit denen wir uns beschäftigen konnten. Oft waren wir draußen im Garten und haben „Der Plumpssack geht um“ und andere Kreisspiele gespielt. Rennen, Toben und mit Fantasie spielen, wie ich das von daheim kannte, gab es nie. Bei schlechtem Wetter hat die Tante uns Geschichten vorgelesen, was ich immer sehr mochte.

Hintergrund: Der Tagesablauf der Kinder folgte einem strengen Zeitplan, den die einzelnen Gruppen einhalten mussten. Alle Aktivitäten wurden in den Gruppen durchgeführt, in die die Kinder zum Anfang eingeteilt wurden. Historische Dokumente belegen, dass es in vielen Einrichtungen trotz aller Bemühungen an Spielzeug für bestimmte Altersgruppen mangelte. Stattdessen wurden viele geführte Gruppen- und Kreisspiele durchgeführt, wie z.B. „der Plumpssack geht um“. Freies Spiel gab es nur selten. Zum Kuren gehörten regelmäßige Spaziergänge an der frischen Luft oder am Gradierwerk. Selten führten die Spaziergänge in den Ort oder in den Kurpark. In vielen Verträgen zwischen den Kinderkureinrichtungen und der Badeverwaltung ist genau festgehalten, ob und zu welchen Konditionen die Kinder die Kureinrichtungen wie Bänke und Wege, nutzen dürfen. In vielen Kuren gab es ein „Bergfest“, mit dem die Hälfte der Kurzeit gefeiert wurde. Vereinzelt boten die Heime den Kindern Ausflüge zu Sehenswürdigkeiten an. Viele Bad Sassendorfer Heime besuchten mit ihren Kindern den Möhnesee.

8. Post + Kommunikation





Kurkind Petra - Tor mit Ornamenten Gartenstraße

An einem Wochenende habe ich ein Paket von Mama und Papa bekommen mit Eiskonfekt und einer Puppe. Den Schwestern hat das nicht gefallen. Sie haben mir die Puppe weggenommen und gesagt ich bekomme sie erst bei der Abreise zurück. Die Süßigkeiten musste ich mit allen teilen. Das fand ich nicht gerecht. Das Paket war für mich und die Schwester dürfen mir meine Sachen doch nicht einfach wegnehmen. Sie haben gesagt es wäre gerechter für alle, wenn jeder was von den Süßigkeiten bekommt, aber ich möchte selbst entscheiden mit wem ich meine Geschenke teile. Eiskonfekt mag ich von allen Süßigkeiten am liebsten und ich habe nur ein Stück davon bekommen! Ich habe Mama und Papa am Mittwoch sofort geschrieben was passiert ist. Denn jeden Mittwoch ist Schreibtag und wir sollen unseren Familien Karten schreiben.

Die Schwestern sind immer dabei und sie lesen unsere Karten bevor wir sie abschicken. Den jüngeren Kindern helfen sie am meisten und sagen ihnen auch was sie schreiben sollen, weil ihnen sonst nichts einfällt. Als die Schwester meine Karte gelesen hat, meinte sie ich solle lieber eine neue Karte schreiben. Sie hat gesagt Mama und Papa würden nicht hören wollen, dass ich unglücklich sei. Ich solle ihnen lieber etwas Schönes schreiben oder erzählen, wie das Wetter ist. Wir schrieben dann immer nur über das Wetter. Die Schwester hat mir dann bei der nächsten Karte geholfen und gesagt was ich schreiben soll. Ich wünschte ich könnte meine Familie sehen. Ich war schon ganz lange im Kurheim und keiner sagte mir, wann ich zurück nach Hause kann. Ich vermisste alle ganz schrecklich.“

Hintergrund: Der Kontakt zu den Erziehungsberechtigten beschränkte sich in den meisten Fällen auf das Schreiben von Briefen und Postkarten. In wenigen Einrichtungen durften die Kinder zu bestimmten Terminen mit ihren Eltern telefonieren. Regelmäßig sollten die Kinder ihren Eltern einen Brief oder eine Postkarte schreiben, um vom Aufenthalt zu berichten. Die Inhalte, die kommuniziert werden durften, waren stark eingeschränkt. Post, in der die Kinder sich negativ zum Aufenthalt äußerten, weinten oder kommunizierten, dass sie Heimweh hatten, wurden nicht verschickt, sondern umdiktiert. Die Briefe wurden von Mitarbeitenden kontrolliert, die den Kindern mitteilten, wenn Sie einen neuen Brief schreiben mussten. Viele der Postkarten folgen einem bestimmten Muster. Die Karten der jüngeren Kinder wurden von den Betreuungskräften verfasst.

9. Rückfahrt





Kurkind Petra - Kinderheilanstalt Neubau

Ich hatte mich immer wieder gefragt, wann es endlich nach Hause gehen würde. Manchmal hatte ich Angst, ob meine Eltern mich nicht mehr wollen und mich deswegen nach Sassendorf geschickt hatten. Am Ende habe ich mich getraut, eine Schwester zu fragen, wann ich denn wieder gehen darf. Ich weiß nicht mehr genau, was sie mir gesagt hat, aber von da an ging schnell. Bald war der Tag gekommen, an den ich fast nicht mehr geglaubt hatte – der Tag meiner Heimfahrt!

Nach einer kräftigen Mahlzeit wurden wir wie am Anfang untersucht: wiegen, messen, abhorchen usw. Der Arzt war nicht begeistert, aber ich durfte nach Hause. Maria hatte sich auch auf die Rückfahrt gefreut, doch sie durfte nicht mit. Trotz des ganzen Essens hatte sie abgenommen und musste noch länger bleiben Bis auf sie, kann ich mich kaum an andere Kinder erinnern. 

Zum Bahnhof sind wir wieder zu Fuß gegangen, aber diesmal waren alle fröhlicher, und wir haben sogar etwas gesungen. Die Betreuerin hat uns dann am Bahnhof mit in den Zug genommen, der mich nach Hause brachte. In Dortmund holten mich meine Eltern vom Bahnhof ab. Sie erkannten mich kaum wieder und meinten ich hätte mich sehr verändert. Ob ich noch einmal zur Kur fahren möchte, weiß ich nicht. 

Hintergrund: Ein durchschnittlicher Kuraufenthalt dauerte zwischen vier und sechs Wochen. Für Kinder war der lange Zeitraum der Trennung von den Eltern nur schwer zu greifen. Nach der geplanten Kurzeit erfolgte eine weitere Untersuchung, in der festgelegt wurde, ob die Kinder nach Hause entlassen werden konnten oder ob eine Kurverlängerung stattfinden sollte. 

Die Rückfahrt erfolgte wie die Anreise mit Bus oder Bahn. Wenige Betreuungskräfte brachten die Kinder an den Zielbahnhof, wo sie von ihren Eltern in Empfang genommen wurden. Viele Betroffene sprachen in ihren Familien nie über die Erlebnisse in der Kinderkur, andere formulierten deutlich, dass sie nie wieder würden zur Kur fahren wollen. Viele Betroffene wurden dennoch mehrmals zu Kindererholungskuren geschickt und machten dort unterschiedlichste Erfahrungen.